Das Christentum und die Entstehung des Kapitalismus

 

[blau = wirtschaftliche Entwicklung / schwarz = kirchliche Aktivitäten]

 

Die Sesshaftwerdung des Menschen und damit auch der Übergang vom Jäger- und Sammlerdasein zum Getreideanbau ereignete sich global an drei Orten: in China, in Mittelamerika und im Nahen Osten. Der nahe Osten ist der für Europa relevante Ort, von dem aus sich der Getreideanbau seit ungefähr 8.000 v.u.Z. "mit einer Gescheindigkeit von etwa einem Kilometer pro Jahr in Richtung Europa" verbreitet. Gegen 5.500 v.u.Z. kam die Landwirtschaft in Nordwesteuropa an (Pado Malanima, Wachstumm und Reife, in: Cerman/Steffelbauer/Tost (Hg.), Agrarrevolutionen,Insbruck/Wien/Bozen 2008, S. 33).

 

Mehrere Jahrtausende später nahm der kulturelle und wirtschaftliche Kern des Westens einen ähnlichen Weg. Ian Morris (Wer regiert die Welt?, Frankfurt am Main 2011, S. 164) meint: "Von 11000 v.u.Z. bis um 1400 u.Z. war der Kern des Westens geographisch ziemlich stabil, nämlich das östliche Ende des Mittelmeers - ausgenommen die Zeit zwischen 250 v.u.Z. bis 250 u.Z., als das Römische Reich, von Italien ausgehend, das Kerngebiet nach Westen zog. Ansonsten lag es stets im Dreieck zwischen den heutigen Staaten Irak, Ägypten und Griechenland. Seit 1400 u.Z. verlagerte sich das Kerngebiet unaufhörlich nach Norden und Westen, zunächst nach Norditalien, dann nach Spanien und Frankreich, später umfasste es, sich erweiternd, England, Belgien, Holland und Deutschland. Um 1900 erfolgt der Sprung über den Atlantik, und um 2000 lag das Kerngebiet fest in Nordamerika."

 

 

I. Antike und Frühmittelalter

 

Die christliche Kirche war spätestens seit ihrer Ausbreitung in den westlichen Teil der Mittelmeerregion von potenten Geldgebern abhängig. Während im östlichen Teil ägyptischer Papyrus als Material für religiöse Schriften verfügbar war, schrieb man im westlichen Teil seit ungefähr 400 u.Z. auf Pergament - und Pergament war teuer. Aus einem Ziegen- oder Kalbsfell konnte man zwei Blätter herstellen, die vier Seiten entsprachen. Pergament war beidseitig beschreibbar. Allein das Neue Testament umfasst aber mehr als einhundert Seiten. (Siehe: Fabio Stok, Vom Papyrus zum Internet, Rahden 2017, S.22)

 

Die keltischen und germanischen Fürsten pflegten, neben anderen Gegenständen auch Edelmetalle in verschiedenen Formen mit ins Grab zu nehmen, die damit dem Wirtschaftskreislauf entzogen wurden. Die Kirche strebte eine Veränderung dieser Praxis an und erreichte, dass die Metalle als Gegenleistung für Gebete zu Gunsten des Verstorbenen  Klöstern und Kirchengemeinden gespendet wurden. Man stellte sie eine Weile als Schmuckgegenstände in Kirchenräumen aus. Später wurden sie für Bauten oder die Armenfürsorge verwendet, somit dem Wirtschaftskreislauf wieder zugeführt. (Siehe: Erich Kaufer, Spiegelungen wirtschaftlichen Denkens im Mittelalter, Insbruck 1998 und Georges Duby, The Early Growth of the European Economy, Ithaka/New York 1978)

 

Im islamischen Kulturkreis entwickelten sich offenbar die ersten Ansätze kapitalistischer Institutionen und kapitalistischen Verhaltens. Hier tauchten z.B. erstmalig Körperschaften als juristische Personen (waqfs) auf. Mohammed, der selbst Kaufmann war, machte sich für Kundenschutz und freien Wettbewerb stark. Nach Europa gelangten islamische kaufmännische Praktiken über die norditalienischen Städte, die rege Handelsbeziehungen in den vorderen Orient und nach Afrika unterhielten. (Siehe: Benedikt Koehler, Early Islam and the Birth of Capitalism, Lanham 2014)

 

Seit dem Frühmittelalter entwickelte sich die Kirche zum ersten multinationalen Unternehmen Europas. Sie war über nationale Grenzen hinweg aktiv und besetzte Führungspositionen in den meisten Fällen nicht auf der Grundlage ererbter Ansprüche, sondern nach individuellen Fähigkeiten einzelner Personen. Dadurch wurde sie ein Vorbild später aufkommender ökonomischer Organisationen. (Siehe: Randall Collins, Weberian Sociological Theory, Cambridge 1986)

 

 

II. Hochmittelalter

 

Fast zeitgleich entstanden ab dem 10. Jahrhundert zwei ökonomische Zentren in Europa: Norditalien und Flandern. Beide Regionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie von eine Vielzahl autonomer Städte geprägt wurden und die Herrschaft der feudalen Landesherren nicht sehr dominant war. Beide Gebiete waren Zentren der Textilproduktion. Im Falle Nortitaliens kam der Handel mit Luxusgütern aus Asien hinzu. Die Verbindung Europas mit der Seidenstraße war nie wirklich unterbrochen. Nach dem Rückzug des Oströmischen Reiches vom italienischen Festland übernahmen zunächst Amalfi und Venedig, später auch Pisa und Genua, den Handel mit dem Nahen Osten.

 

"Schon früh bot die Kirche den Kaufleuten Schutz", stellt Jaques Le Goff fest. "1074 befahl Papst Gregor VII. dem französischen König Philipp I., die Waren zurückzugeben, die er von italienischen Kaufleuten ... hatte konfiszieren lassen" (Kaufleute und Bankiers im Mittelalter, Berlin 2005, S.81). Vor allem erwies sich die Einführung des sogenannten 'Gottesfriedens' durch die Kirche als eine für Kaufleute günstige Maßnahme. "So forderte der 22. Kanon des Laterankonziels von 1179 zur Regelung des Gottesfriedens Sicherheit für 'Priester, Mönche, Kleriker, Laienbrüder, Pilger, Kaufleute, Bauern und Lasttiere" (ebd. S. 81 f.).

 

Für ein wirtschaftsfreundliches kulturelles Umfeld sorgte die Kirche - wahrscheinlich unbewusst -, indem sie durch das Verbot von Ehen zwischen nahen Verwandten und durch psychischen Druck auf Neuvermählte, einen eigenen Hausstand zu gründen, Clanstrukturen zerstörte bzw. unmöglich machte ( siehe: Jonathan F. Schulz u.a., The Church, Intensive Kinship, and Intensive Psychological Variation, in: Science Vol. 366 vom 08.09.2019, S. 707). Clanstrukturen sind ungünstg für das wirtschaftliche Wachstum, da sie Korruption und Kriminalität begünstigen.

 

Im 10. und in der ersten Hälfte des 11.Jahrhunderts erlebten Flandern und das Tal der Meuse einen wirtschaftlichen Aufbruch. Nach zahlreichen Wikingerangriffen wurden zerstörte Städte neu aufgebaut. Andere Ortschaften hatten sich behauptet und entwickelten neue Aktivitäten. Es entstanden zahlreiche Märkte und Handelsbeziehungen mit überregionaler Bedeutung (Georges Duby, The Early Growth of the European Economy, Ithaka/New York 1978). Der wirtschaftliche Aufbruch manifestierte sich bald auch in Nordfrankreich, England, dem Rheinland sowie Nord- und Süddeutschland.

 

"An erster Stelle störte die Kirche das Ziel des Handels: das Gewinnstreben, die Geldgier" (Jaques Le Goff, Kaufleute und Bankiers im Mittelalter, Berlin 2005, S. 76). Sie erkannte zunächst nur die schöpferische Arbeit der Bauern und Handwerker "als legitime Quelle von Gewinn und Reichtum an" (ebd. S. 78). Jedoch wurde der Kaufmann schon bald wegen seiner Dienste für die Gesellschaft, die er durch den Gebrauch "seiner Organisation und seiner Methoden leistete, mit einem Arbeiter verglichen" (ebd. S. 85). Diese offizielle Akzeptanz war zweifellos für die Aktivitäten der Kaufleute förderlich. Ebenso hilfreich war ein 180-Grad-Schwenk der Kirche in ihrer Beurteilung des Zahlens und Nehmens von Zinsen. Zunächst "hatten die Kanonisten und Theologen Mühe zuzugeben, dass aus Geld Geld werden kann und dass auch die Zeit - die Zeit, die konkret zwischen der Darlehensvergabe und seiner Rückgabe verfließt - Geld erzeugen kann" (ebd. S. 78). Das sollte sich bald ändern. Ab dem Ende des 12. Jhs. nimmt die Kirche das Risiko in den Blick, das fast immer mit dem Verleihen von Geld einhergeht. Es reicht jetzt aus, "dass der Ausgang einer Operation zweifelhaft ist ... damit die Kirche anerkennt, dass darin vielleicht das Wesen der kaufmännischen Betätigung besteht und damit Zinsnahme gerechtfertigt erscheint" (ebd. S. 84).

Norditalien entwickelte sich zur führenden Wirtschaftsregion Europas. Hier entstanden ökonomische Strukturen, die bis heute bedeutsam sind. "Teilhaberschaften und Finanzierungen, die bisher nur eine Handelsreise lang hielten, wurden im 13. Jahrhundert zu dauerhaften Elementen. ... Die Entwicklung des Unternehemens mit übertragbaren Anteilen war im frühen 14. Jahrhundert eindeutig abgeschlossen, wahrscheinlich bereits Mitte des 13. Jahrhunderts. ... Neben der Expansion der Unternehmen im Binnenmarkt ... fand ein entsprechendes Wachstum im Auslandsgeschäft statt. ... Zwischen den wichtigsten Handelszentren etablierten sich im 13. Jahrhundert Botendienste." Darüber hinaus entstand ein Bankennetzwerk in den großen Handelsmetropolen, "vor allem in der Toskana. Es erstreckte sich ... bis zu den Champagnemessen ... . Es reichte auch nach Paris, Brügge und London und setzte sich nach Süden fort bis ... Palermo" (Peter Spufford, Handel, Macht und Reichtum - Kaufleute im Mittelalter, Darmstadt 2004, S. 18-20).

 

Der Orden der Zisterzienser wurde 1098 in Cîteaux in Burgund gegründet. Das prominenteste Mitglied, Bernhard von Clairveaux, trat 1113 in den Orden ein. Der Orden breitete sich dynamisch aus. In dem Gebiet zwischen Seine und Rhein (einschließlich Burgund), das zugleich das ehemalige Kerngebiet des karolingischen Reiches war, entstanden bis zum Jahr 1200 ca. 100 Zisterzienserklöster. Weitere Tochter- und Enkelklöster kamen hinzu, und bald erstreckte sich das Einflussgebiet des Ordens auf ganz Europa. Die Mönche waren im Kohle- und Erzbergbau aktiv. Sie betrieben Steinbrüche. Sie hielten Vieh, obwohl sie vegetarisch lebten, um Pergament herstellen und die Metzgereiprodukte verkaufen zu können.  Zisterzienserklöster bauten Getreide, Obst, Gemüse und Wein an. So versorgten sie die aufblühenden Städte mit Lebensmitteln und Handwerksprodukten. Sie stellten Salz her sowie Backsteine, Fliesen und Glas. Sie nutzten die Wasserkraft exzessiv und standen "im 12. Jahrhundert in der Metallverarbeitung an der Spitze der Entwicklung" (Georges Duby, Die Klöster der Zisterzienser, Paris 2004, S. 107). Ihre landwirtschaftlichen und handwerklichen Aktivitäten strahlten auf die sie umgebenden Städte und Regionen aus. Darüber hinaus waren sie eine der bedeutendsten Banken des Hochmittelalters. Zur Zeit Bernhards waren sie vor allem auch ein Medienkonzern. Er verfasste öffentliche Briefe und Ansprachen. Die Schreibstuben der Zisterzienser waren in der Lage diese zu vervielfältigen. "Der heilige Bernhard war der 'Bestsellerautor' des 12. Jahrhunderts, vielleicht sogar des ganzen Mittelalters" (Jean Leclercq, Bernhard von Clairveaux, München 2009, S. 56).

 

Der Vatikan brauchte eine funktionierende Bankenorganisation: "Als das immer enger geknüpfte Netz des päpstlichen Steuerwesens sich von Avignon aus über die Christenheit ausbreitete, fiel es den italienischen Bankiers, besonders den Florentienern, zu, die Kassen der Kurie mit den Steuerertägen und unterschiedlichen Taxen zu füllen; sie streckten dem Papst beträchtliche Summen vor, führten für ihn alle notwendigen Operationen durch und verfügten in einem gewaltigen geografischen Raum über die unvergleichliche Manövermasse, die das Geld der Kirche für ihre Geschäfte darstellte" (Jaques Le Goff, Kaufleute und Bankiers im Mittelalter, Berlin 2005, S. 68).

 

 

III. Neuzeit

 

Nach der Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Asien durch Umsegelung des Kaps der guten Hoffnung, entwickelte sich ein reger Seehandel Europas mit und zwischen den anderen Kontinenten, der "von einem pragmatischen Macht- und Gewinnstreben, sowie einem wachsenden Konsumbedürfnis, häufig begleitet von einem starken (religiösen) Sendungsbewusst-sein" getrieben wurde (Christian Kleinschmidt, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, München 2017, S. 64). Das erste Produkt industieller Massenfertigung, das weltweit gehandelt wurde, waren Baumwolltextilien. Für die Baumwoll und Zuckerproduktion wurden zahlreiche Sklaven von Westafrika nach Amerika transportiert, wo sie zum großen wirtschaftlichen Erfolg dieser Produktion beitrugen.

 

Trotz diverser Einsprüche einzelner Personen wurden Sklavenhandel und Sklaverei sehr lange von allen christlichen Kirchen geduldet. Erst ab "1780 startete in Großbritannien eine Kampagne gegen die Sklaverei. Sie wurde ... von Anhängern der englischen Erweckungsbewegung ins Leben gerufen ... . 1833 wurde die Sklaverei schließlich im ganzen Empire verboten" (Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt, München 2015, S. 551). Und in der Folge auch in vielen anderen Ländern.

 

Obwohl 1776 erstmalig eine Dampfmaschine auf energieeffiziente Weise Wasser aus einem Bergwerk in England pumpte, dauerte es eine Weile, bis diese Maschine in großer Zahl eingesetzt wurde. Aber "1870 produzierten britische Dampfmaschinen bereits vier Millionen Pferdestärken, das Äquivalent von 40 Millionen Arbeitern, die - wäre die Industrie noch von Muskelkraft abhängig gewesen - mehr als das dreifachen der britischen Jahresgetreideproduktion verzehrt hätten. Fossiler Brennstoff machte das Unmögliche wahr" (Ian Morris, Wem gehört die Welt? Frankfurt am Main 2011, S, 480).

 

Eine weit verbreitete Form der Kirchen, die Wirtschaft zu unterstüzen, ist heute die pädagogische Form. Eltern wünschen die Teilnahme ihrer Kinder an Religionsunterricht und Gemeindeleben, um gewisse Tugenden, die für die erfolgreiche berufliche Entwicklung ihrer Kinder nützlich sein könnten (Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Treue etc.), als von Gott gewollt in deren Psyche zu verankern. Dass auch die moderne Wirtschaft an solcher Erziehung ein Interesse hat, beschreibt der Ökonom Erik Händeler in der Zeitschrift Publik-Forum. "Wohlstand hängt heute nicht mehr hauptsächlich von Technik ab, sondern von den Menschen hinter der Technik: von ihrem Sozialverhalten, ihrer seelischen Gesundheit und von der Kultur des Umgangs miteinander. Deren Wurzeln wiederum liegen in den religiösen Vorstellungen." (Publik-Forum 10/2018, S.46) Oder mit etwas anderen Worten der Publizist Gerhard Schwarz: "Gerade der Kapitalismus ... kann nicht funktionieren, wenn die Gesellschaft nicht durch einige gemeinsame und mit der Marktwirtschaft harmonierende Grundwerte geprägt wird." Er stellt fest, "dass die Marktwirtschaft diese notwendigen ... gemeinsamen Werte nicht selbst herstellen kann, sondern dass sie ... nicht zuletzt von den Kirchen aufgebaut und weitergegeben werden müssen." (Gerhard Schwarz, Ist der Markt unmenschlich? in: Stephan Wirz (Hg.), Kapitalismus - ein Feindbild für die Kirchen? Zürich 2018, S.103)